Roda (12) hat viele Zukunftsträume, aber ihr größter ist ganz einfach

Boxmeisterin, Fußballerin, Musikerin - obwohl sie die ersten Tage des Ukraine-Kriegs nur knapp überlebt hat, fehlt es Roda nicht an Zukunftsträumen. Doch nachdem sie die letzten neun Monate in einer Notunterkunft verbracht hat, ist ihr größter Traum ganz einfach: nach Hause zurückzukehren.
Roda (12) sitting on a couch, with a red headband smiling at the camera

Freundschaften schließen

Wir treffen Roda zum ersten Mal an einem heißen Sommertag in Uschgorod, einer historischen Stadt an der Grenze zur Slowakei im äußersten Westen des Landes. Sobald wir die staubige Rezeption eines ehemaligen Restaurants betreten, das zu einer Notunterkunft umfunktioniert wurde, spüren wir die neugierigen Blicke von Roda und ihren Freunden, die in der Ecke auf einem schwarzen Ledersofa kichern.

Während ich meinen Rucksack abstelle und mich mit dem Personal bekannt mache, freundet sich Kameramann Michael bereits mit Roda und ihrer Truppe an. Er knipst ein paar Fotos, und schon geht es los. Sie posieren, als hätten sie das schon eine Million Mal gemacht. "Wollt ihr jetzt ein Foto von mir machen?", fragt Michael und drückt ihnen lässig die Tausende Euro teure Ausrüstung in die Hand. Schnell wird klar, dass Roda das Sagen hat, denn sie drückt auf den Auslöser und fängt Michael ein, der in den sonnendurchfluteten Innenhof hinausläuft.

Roda (12) smiling with two friends on a couch in a shelter in Ukraine

Roda hat ihre Freunde erst vor ein paar Wochen kennengelernt, aber sie sind bereits unzertrennlich

Foto: Michael Jessurun

Children in a shelter in Ukraine playing football

Fußball, UNO und andere Spiele in der Unterkunft helfen den Kindern, sich von ihren Erlebnissen zu erholen

Foto: Michael Jessurun

Der Tag, an dem der Krieg kam

Es entwickelt sich ein Fußballspiel, bei dem sich Roda überraschenderweise auch als eine erfahrener Dribblerin entpuppt. Vor lauter Lächeln und Lachen ist es schwer zu begreifen, was sie und ihre neu gewonnenen Freund*innen in den letzten Monaten erlebt haben.

"Ich erinnere mich an den Tag, als der Krieg kam", sagt sie ruhig. "Ich und meine Freundin verließen das Haus, um zum Boxtraining zu gehen. Wir gingen nach draußen und hörten ein lautes Geräusch."

Ich beschließe, eine Pause einzulegen, um sicherzugehen, dass sie sich nicht unter Druck gesetzt fühlt, von solch schwierigen Ereignissen zu erzählen, aber Roda ist begierig darauf, ihre Geschichte zu erzählen, und fährt ohne Angst oder Zögern schnell fort. "Es war so etwas wie ein Hubschrauber, aber als wir uns umdrehten, sahen wir eine Rakete. Dann gab es eine große Explosion in dem nahe gelegenen Dorf. Sie war so stark, dass alles zitterte. Es war sehr gruselig."

Die Flucht nach Hause

Sie brach das Training ab und rannte mit ihrer Freundin ins Haus. Wie festgeklebt warteten sie darauf, dass ihre Familie nach Hause kam. Roda: "Es wurde dunkel und irgendwann merkte ich, dass ich meinen Welpen draußen im Garten gelassen hatte. Ich ging hinaus, um ihn zu holen, und sah, wie der Himmel in Flammen aufging. Hierbleiben war sehr gefährlich, deshalb sind wir gegangen.

Am nächsten Morgen flohen Roda und ihre Großmutter mit nichts als ein paar Koffern aus Odesa. "Mein Welpe war zu klein, um ihn mit in den Zug zu nehmen, also blieb er zu Hause bei meinem Onkel", sagt sie.

Das ist das erste Mal, dass ich Schmerz in ihren Augen sehe.

Sicherer Hafen

Zwei Tage später kam die Familie in Uzhhorod an, als eine von etwa 4000 Personen, die in den ersten Tagen mit dem Zug eintrafen.

"Aufgrund ihrer Lage an der slowakischen Grenze und in der Nähe von Ungarn wurde meine Stadt zu einem sicheren Zufluchtsort für Familien, die vor der Gewalt fliehen", sagt Oskana, eine der zwei Frauen, die die Unterkunft betreiben. "Wir haben alles getan, was wir konnten, um ihnen zu helfen: ein kostenloses Haus, etwas zu essen und die grundlegenden Dinge für ihr Überleben, aber wir waren nicht gut genug ausgerüstet um die Situation zu bewältigen. Viele Menschen waren hysterisch, viele standen unter Stress".

Seit sieben Jahren arbeitet Oksana für die lokale Nichtregierungsorganisation BLAHO, eine Organisation, die sich um die Bildung marginalisierter Rom*nja-Kinder kümmert. Doch an diesem Tag änderte sich alles. "Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben; das normale Leben blieb stehen", sagt sie.

Im März eröffneten Oksana und BLAHO-Direktorin Eleonora eine Unterkunft. Oksana: "Wir mieteten ein Hotel und bauten es zu einer Notunterkunft um. Die Zimmer waren sofort voll, also kauften wir Matratzen und legten sie im Restaurant des Hotels aus."

Children jumping outside the BLAHO shelter in Ukraine

Oksana sagt, der Krieg habe ukrainische und Rom*njaa-Kinder zusammengebracht.

Foto: Michael Jessurun

Two women who run the BLAHO shelter playing with children and a ball

Oksana [im Bild] ist eine von zwei Frauen, die die Unterkunft betreiben.

Foto: Michael Jessurun

Wissen und Fähigkeiten teilen

Das Schwierigste an dieser Umstellung, erklärt Oskana, war die plötzliche Notwendigkeit, diese Familien nicht nur mit Lebensmitteln, Wasser und einem Ort zum Ausruhen zu versorgen, sondern auch psychologisch zu unterstützen. Als Teil unserer Nothilfe kam hier War Child ins Spiel.

"Wir waren nicht in der Ukraine, als der Krieg begann, und wir stellten schnell fest, dass wir zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage waren, physisch einzugreifen", sagt Ramin Shahzamani, CEO von War Child. "Wir konnten einen Mehrwert schaffen, indem wir lokale Partner wie BLAHO dabei unterstützten, auf Menschen zu reagieren, die unter enormem psychischen Stress standen.

"Was braucht ein Kind, wenn es verzweifelt ist? Welche anderen Verhaltensweisen oder Emotionen sind wahrscheinlich zu beobachten? Das waren die Fragen, die wir beantworten wollten."

Oksana und eine Lehrerin wurden für eine dreitägige Online-Schulung ausgewählt, die ihnen helfen sollte, die Fähigkeiten zur Betreuung von Kindern und Eltern zu entwickeln und gleichzeitig auf ihre eigene psychische Gesundheit zu achten. "Wir erhielten einige Übungen und Hilfsmittel, die wir bei unserer Arbeit einsetzen können, um Stress abzubauen und die psychische Genesung der Kinder zu unterstützen", sagt Oksana. "Ich wende diese Übungen auch selbst an - das hat mir sehr geholfen."

Gesprächstherapie und Kunsttherapie

Zusätzlich zu ihrer Unterstützung und dank der Finanzierung durch War Child wurden in der Unterkunft auch professionelle psychologische Sitzungen eingeführt. Die Kinder haben einmal pro Woche die Möglichkeit, eine Sitzung zu besuchen. "Ich mag die Psychologin", sagt Roda. "Einmal, als sie uns besuchte, haben wir ein Spielzeug gebastelt. Es ist ein kleiner Strichmännchen aus Ton, Stöcken und Stoff."

Meistens schläft Roda ruhig, aber gelegentlich träumt sie schlecht von der Rakete, die sie fliegen sah. "Ich mache das Licht an, kuschle mit meinem Knetspielzeug und fühle mich dann sicher", sagt sie.

Roda (12) holding a stick figure she made

Roda hat dieses Spielzeug in einer Sitzung mit einer Psychologin selbst gebaut.

Foto: Michael Jessurun

Symbole der Hoffnung

In Kombination mit der psychologischen Unterstützung nehmen die Kinder in der Unterkunft an einer Kunsttherapie sowie an pädagogischen Übungen teil. "Wir haben Unterricht mit der Lehrerin. Sie bittet uns, uns auf einen Stuhl zu setzen", erklärt Roda. "Sie hat uns gesagt, dass wir, wenn wir auf dem Stuhl sitzen, die Augen schließen und an einen Wunsch denken sollen, der dann in Erfüllung gehen wird.

Beim ersten Mal wünschte sich Roda eine Gitarre - neben Boxen und Fußball würde sie sich auch gerne in der Musik versuchen. "Wenig später kam ein Musiker aus Paris in die Unterkunft und hatte eine Gitarre dabei", erzählt sie sichtlich bewegt. "Ich konnte es nicht glauben - mein Traum ist wahr geworden!"

"Wir sind müde"

Roda ist ein strahlendes Symbol der Hoffnung und der Unverwüstlichkeit, doch die jüngste Eskalation der Gewalt dämpft sogar ihre Laune: "Ich habe hier viel Spaß. Ich habe viele Freunde. Wir erleben jeden Tag viele Abenteuer. Aber ich vermisse meinen Welpen, ich vermisse das Meer, ich vermisse Odesa. Jedes Mal, wenn ich mich auf den Stuhl setze, wünsche ich mir, wieder nach Hause zu kommen."

Natürlich hatten wir eine Liste mit vorbereiteten Fragen dabei, und eine davon ist genau diese: Was sind deine Hoffnungen und Träume für die Zukunft? "Das ist keine schwierige Frage", sagt Oksana. "Alles, was sie wollen, ist, nach Hause zu gehen. Alles was sie wollen, ist ein normales, sicheres Leben zu führen."

"Mein Land hat sich heldenhaft der Herausforderung gestellt und das werden wir auch weiterhin tun - aber wir sind müde. Es ist nicht so einfach, in dieser Zeit zu leben."

Unser Traum ist es, dass alle Kinder das Leben führen können, das sie sich wünschen. Frei zu spielen. Frei, um zu wachsen. Frei zu sein. An diesem Weltkindertag feiern wir die Unverwüstlichkeit von Kindern wie Roda, die inmitten des Krieges an ihren Träumen festhalten.